Bilder lesen statt betrachten

In der Schule lernen wir das Alphabet. Wie man in der modernen Medienwelt Bilder konsumiert, hat uns leider niemand beigebracht.

Mehr und mehr dominieren Bilder und Filme die Medien. Politische oder wirtschaftliche Entscheidungen werden durch Bilder stark beeinflusst. So wie man einem Text den Wahrheitsgehalt nicht ansieht, so ist es heute mit Bildern. Ein Bild ist längst nicht mehr authentisch – zwischen Bilder optimieren und fälschen liegt eine riesige Grauzone.

Bilder lesen statt betrachten
(Bild 1) Wie wird dieses Bild interpretiert? Gibt es zu viele Hunde, hat die Gemeinde ein Sauberkeitsproblem 
oder sind die Hundehalter sehr diszipliniert? Ein Bild kommuniziert mehrschichtig.

Alle Autoren wollen die Leser, Hörer und Betrachter beeinflussen. In der Werbung und im Marketing soll das Kaufverhalten positiv beeinflusst werden, in der Politik werden Meinungen gemacht. Dies ist legitim und hat mit (Meinungs-)Bildung zu tun. Texte können eine lange Argumentationskette darlegen, sie brauchen ungeteilte Aufmerksamkeit. Beim Lesen entsteht nach und nach ein eigenes Bild. Ein Text wird geschrieben, umformuliert oder gekürzt, das Bild wird fotografiert und retuschiert. Mit beiden kann in guter Absicht geschönt oder in täuschender Weise manipuliert werden.


Bilder funktionieren mehrschichtig

Ein Bild funktioniert nicht wie Text, man setzt sich nur kurz damit auseinander. Bilder werden weniger mit dem Intellekt verstanden, sie funktionieren mehrschichtig «durch den Bauch». Und zwar rasend schnell. Sie werden als zeitgebundener Bildstrom übers Auge-Hirn-System wahrgenommen, ganz automatisch. Wir brauchen dazu keine sozialen Errungenschaften wie Sprache oder Buchstaben.

Es sind drei verschiedene Themen im Zusammenhang mit Bildern zu unterscheiden: Das Erkennen, das Interpretieren und das Erinnern von Bildern. Alle drei sind in dieser Reihenfolge präsent.


Unsere Lebenserfahrung entscheidet, was wir sehen

Was wir sehen, hängt mit unserer Lebenserfahrung zusammen. Die Gestaltgesetze sind gut dokumentiert und prägen unsere Vorstellung, von dem, was wir sehen. Wir wissen auf Bildern, was oben, unten, links, rechts oder vorn und hinten ist. Selbst wenn Bilder auf dem Screen oder im Druck nicht dreidimensional dargestellt sind oder flach auf dem Tisch liegen. 

Wir scannen Bilder wie eine Zeitungsseite mit Augensprüngen (Sakkaden) und entdecken «Figuren», die wir im Hirn abgleichen. Die Relevanz entscheidet, ob das Bild zugelassen und behalten wird oder nicht. Relevanz heisst: Ist das Bild für mich wichtig, und welche Instinkte bedient es? Macht es Angst oder bringt es mich zum Schmunzeln? Solche Entscheide laufen in Millisekunden ab und legen fest, ob wir uns dem Bild weiter zuwenden, Details entdecken oder uns darüber Gedanken machen.

Bilder lesen statt betrachten
(Bild 2) Das Auge scannt ein Bild in Augensprüngen. Die Wege sind von Mensch zu Mensch verschieden.

Wen das Bild auf den ersten Blick kalt lässt, der wird sich nicht weiter mit ihm beschäftigen. In den Medien werden Bilder immer im Kontext mit dem Text wahrgenommen. Meist sind es gross aufgemachte Titel oder Legenden, die zusammen mit dem Bild gelesen werden. Das Bild ist also der klassische Eyecatcher und öffnet das Tor zum Texteinstieg.

Je auffälliger, einmaliger und ungewöhnlicher, desto eher wird ein Bild wahrgenommen. Ob das, was auf dem Bild gezeigt wird, auch erkannt wird, hängt vom Erfahrungsschatz des Betrachters ab. Ein Cartoon oder Piktogramme können mit wenigen Strichen Ähnlichkeit und damit Klarheit herstellen. Das Hirn gleicht Bekanntes mit ankommenden Reizen ab und stellt schon bei Ähnlichkeit einen Zusammenhang her.


Emotionales spricht an

Es gibt eine Rangfolge der Reize, denen wir beim Betrachten unterliegen. Nackte Haut, Babies, kleine Tiere, Gewalt, Katastrophen reizen uns mehr als Bilder von Maschinen oder Möbeln. Zerbombte Dörfer und Städte erreichen unser Herz dann nicht mehr, wenn wir sie täglich zu sehen bekommen. Die Menge stumpft ab

Somit sind wir bei der Interpretation. Jedes Hirn ist mit einem eigenen Rucksack ausgestattet. Nicht alle interpretieren Bilder auf die selbe Art und Weise. Nacktaufnahmen lösen bei Frauen und Männern unterschiedliche Gefühle aus. Ein abgebildetes Kotelett wird auf Vegetarier anders wirken als auf Fleischtiger. Die Interpretation hat eine Entsprechung beim Text oder der Sprache: dort heisst es, «zwischen den Zeilen lesen». Man interpretiert etwas heraus, was vordergründig nicht dasteht.

Bilder lesen statt betrachten
(Bild 3) Bilder in den Medien stehen immer im Kontext. Bei diesem Fotobuch wird ein Zusammenhang 
zwischen früher und heute offensichtlich. Das Auge vergleicht.

Das Speichern von Bildern ist wiederum eine sehr persönliche Sache. Es geht nicht nur um Fotografien – auch Grafiken, Kunst, Träume oder eigene Phantasiewelten aus einem Buchroman werden im Hirn gespeichert und mit der Gefühlsebene verbunden. Es sind also nicht bestimmte Formen und präzise Farben, sondern gesamtheitliche Eindrücke, die mit Tönen, Geschmäckern und Gerüchen verknüpft sind, an die wir uns erinnern.


Fazit

Bilder kann man nicht mit dem Intellekt verstehen, sie funktionieren mehrschichtig. Ob wir uns an ein Bild erinnern oder nicht, ist eine Frage der Relevanz. Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte festhalten:

  • Was wir sehen, hängt mit unserer Lebenserfahrung zusammen
  • In Zusammenhang mit Text ist das Bild der Eyecatcher und öffnet das Tor zum Texteinstieg
  • Emotionales spricht an, die Menge stumpft ab
  • Nackte Haut, Babies, kleine Tiere, Gewalt und Katastrophen reizen uns mehr als Bilder von Maschinen oder Möbeln
  • Wir erinnern uns nicht an bestimmte Formen und präzise Farben, sondern an gesamtheitliche Eindrücke.
Weitere Facetten befinden sich in folgendem Publisher-Beitrag.


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Autor

Ralf TurtschiRalf Turtschi
agenturtschi.ch








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